Medienwirkungen und die Persuasion in der Gruppe: The People’s Choice revisited (Teil 12 der Serie zu Viraler Werbung)

Wenn man von der Nutzung der Werbung für interpersonelle Kommunikation spricht und wenn das Konzept der Viralen Werbung darauf aufbaut, Werbeerfolg durch interpersonelle Kommunikation nach der Rezeption zu erreichen, dann liegt es nahe, zur Erklärung einen Ansatz der Kommunikationsforschung heranzuziehen, der es zu besonderer Prominenz geschafft hat. Gemeint ist der 2-Stufen-Fluß der Kommunikation und sein so oft zitiertes Ergebnis: „[…] ideas flow from radio and print to the opinion leaders and from them to the less active part of the population“ (Lazarsfeld/Berelson/Gaudet 1955 [1944]: 151; Hervorhebungen im Original).

Was aber ist das für eine Studie und welche Schlüsse lassen sich heute daraus für das Konzept Virale Werbung ziehen?

In „The People’s Choice“ versuchten die Forscher herauszufinden, wie und warum Menschen zu einer Wahlentscheidung kommen und wovon sie dabei am meisten beeinflusst werden (vgl. ebd.: 1). Die Studie wurde im damals 43000 Einwohner zählenden Erie County, Ohio während der Kampagne zur Amerikanischen Präsidentschaft zwischen Wendell L. Willkie und Franklin D. Roosevelt 1940 durchgeführt. Im Gegensatz zu normaler Umfrageforschung interessierte bei dieser Studie allerdings nicht der Ausgang der Wahl, sondern der Prozess der Meinungsbildung bis zur endgültigen Wahlentscheidung und die Einflüsse darauf (vgl. ebd.: 10).

Das wohl bekannteste Ergebnis der Studie  ist die „Entdeckung“ der sogenannten „Opinion Leaders“ oder Meinungsführer (vgl. ebd. S. 49), die heute auch zum Standardinventar der Marktkommunikation gehören (vgl. z.B. Schweiger/Schrattenecker 2005:9). Als Meinungsführer bezeichneten die Autoren jene Menschen in einer sozialen Gruppe, die sich am meisten mit einem Thema beschäftigen und ihren Standpunkt in dieser Hinsicht auch stärker als andere artikulieren (nach Selbstdeklaration). Das Konzept der Meinungsführerschaft ist allerdings im Kontext anderer Ergebnisse der Studie zu sehen, die sich ja in erster Linie mit den Wirkungen der Massenmedien beschäftigte. Lazarsfeld, Berelson und Gaudet bezeichnen die von ihnen in Erie County beobachteten Medienwirkungen als Aktivierung, Verstärkung und Meinungsverschiebung (vgl. ebd. 101). Diese sollen nun kurz beschrieben werden, um die „berühmten“ Ergebnisse besser einordnen zu können.

Mit Aktivierung ist gemeint, dass die politische Kampagne, die bereits latent vorhandene politische Prädisposition der zu Beginn der Kampagne noch unentschlossenen Wähler lediglich aktivierte.

Knowing a few of their personal characteristics, we can tell with fair certainty how they will finally vote: they join the fold to which they belong. (ebd.: 73)

Die Aktivierung der Wähler läuft, so nehmen die Autoren an, in vier Schritten ab. Zuallererst erzwingt die Kampagne von fast allen Aufmerksamkeit und Interesse. Das verstärkte Interesse führt wiederum zu höherem Medienkonsum (vgl. 82). Die Auswahl der rezipierten Medieninhalte wird allerdings von der sozialen und persönlichen Prägung der Wähler beeinflusst. Aufmerksamkeit wird selektiv jenen Inhalten geschenkt, die eher die eigene Position vermitteln (vgl. 82). Am Ende kristallisiert sich in den überwiegenden Fällen jene Wahlentscheidung hervor, die zu einem großen Teil schon vom sozialen Umfeld vorbestimmt wurde.

Political writers have the task of providing „rational“ man with good and acceptable reasons to dress up the choice which is more effectively deter-mined by underlying social affiliations. (ebd. 83)

Die Propaganda hat demnach also weniger die Funktion zu „überzeugen“, sondern Material dafür zu liefern, um die Wähler in jene Richtung zu lenken, die sozusagen aus ihrem sozialen Umfeld determiniert ist.

Ein weiterer Effekt, jener der Verstärkung, wird von den Autoren als „Nulleffekt“ eingeführt (vgl. ebd. 87).

Paradoxically enough, campaign propaganda exerted one major effect by producing no overt effect on vote behaviour at all – if by the latter „effect“ we naively mean a change in vote. (ebd.: 87)

Die meisten der Wähler wussten schon bevor die Kampagne überhaupt startete, wem sie später ihre Stimme schenken würden. Für diese Wähler erfüllte die Wahlpropaganda den Zweck ihre Einstellungen zu bewahren, zu verstärken um sie gegen Veränderung abzuschirmen. Die meisten Menschen, so die Autoren, wollen hören dass sie im Recht sind und die Mehrheit auf ihrer Seite haben. Dieser Nutzen, der aus der Rezeption von Wahlkommunikation gezogen wird, deckt sich auch mit jenen, die von O’Donohoe fast 50 Jahre später in ihrer Studie über den Nutzen von Werbung für Jugendliche zeigen konnte: Orientierung und Rückversicherung (vgl. O’Donohoe 1993: 55).

Der dritte Effekt und damit eigentlich jener der gemeinhin unter Medienwirkung von Kommunikatoren erwartet und von Kritikern befürchtet wird, ist jener des Einstellungswandels (vgl. ebd. 94). Dazu soll folgender Vergleich aus der Studie dienen (vgl. ebd.: 102): Zwischen den Wahlen 1936 und Mai 1940, einer Zeit ohne politische Kampagnen, verloren die Demokraten 21% an Zustimmung an die Republikaner. Zwischen Mai und Oktober 1940 alleine haben weitere 8% der Wähler ihre Präferenz geändert. Für Lazarsfeld, Berelson und Gaudet sind das „few indeed“ (ebd.: 94). Unabhängig davon, ob diese Zahl nun als starker oder schwacher Medieneffekt interpretiert wird, zeigt die Wahlstudie, dass jene Menschen die sich am Meisten für die Wahl interessierten und ihre Favoriten bereits kannten, die Kampagneninhalte am stärksten rezipierten. Diejenigen, die für den Wandel eigentlich am meisten offen gewesen wären, wurden in den Medien am wenigsten erreicht. Der Wandel passiert nun in jenen Fällen, in denen Menschen, die eigentlich eine Disposition für eine Partei hätten, dennoch aus den verschiedensten unwahrscheinlichen Gründen mehr Inhalte der anderen Kampagne rezipieren (vgl. ebd.: 96 und 124f).

Anhand der vielen Ergebnisse und Indizien argumentieren Lazarsfeld, Berelson und Gaudet nun, dass bei der Einstellungsänderung die soziale Gruppe eine größere Rolle als die Massenmedien spielen (vgl. ebd. 137ff). Menschen organisieren sich und leben in sozialen Gruppen, die sich in bestimmten Eigenschaften sehr ähnlich sind. Wählen wird damit, wie viele andere Handlungen auch, zu einem sozialen Akt und Wahlentscheidungen werden häufig in jene Richtung getroffen, die die politische Homogenität der sozialen Gruppe erhöht (vgl. ebd. 139). So geben innerhalb von Familien nur 4% an, dass ein Familienmitglied anders wählte als man selbst (vgl. ebd. 141). Im Falle von abweichendem Verhalten, so die Aussagen einiger zwischenzeitlich unentschlossenen Wähler, müsse man mit sozialen Sanktionen rechnen (vgl. ebd. 143). Soziale Gruppen schaffen es also in einem Großteil der Fälle, die Einstellungen ihrer Mitglieder wieder auf Linie zu bringen (vgl. 148). Die Autoren argumentieren, dass es natürlich möglich ist, dass diese Entscheidungen gar nicht bewusst getroffen werden. In diesem Fall kommen einerseits die bereits geschilderte Aktivierungswirkung der Medien und andererseits die direkte Effektivität der persönlichen sozialen Kontakte zum Tragen (vgl. ebd. 149).

Welche besonderen Eigenschaften aber haben nun diese persönlichen Kontakte für die Persuasion? Die Autoren führen zwei Vorteile der persönlichen Kommunikation an: die höhere Reichweite und bestimmte psychologische Vorteile. (Im vermutlich am häufigsten zitierten Teil der Studie arbeiten Lazarsfeld, Berelson und Gaudet strenggenommen hypothesengenerierend, da die hier präsentierten Ergebnisse nicht, so wie der der gesamte restliche Teil der Studie statistisch belegt wird und auch nicht auf eine explizite Theorie zurückgegriffen wird.)

Zum einen erreichen die persönlichen Kontakte die Unentschlossenen, also jene Gruppe von Personen, die sich im Vergleich zu anderen für die Wahlen weniger interessieren (vgl. 150). Vor allem von den Unentschlossenen wurden bei der Frage nach ihrem Kontakt mit Kampagnenthemen politische Diskussionen häufiger genannt als Radio oder Zeitungen. „And this coverage ‚bonus’ came from just these people who had not yet made a final decision as to how they would vote.“ (ebd. 151) – persönliche Kontakte erreichen also andere Menschen. Eine wichtige Rolle bei diesem Prozess übernehmen dabei für die Autoren die Meinungsführer. Sie tragen die Ideen von den Massenmedien an die weniger aktiven Mitglieder der Bevölkerung weiter (vgl. ebd.). Der Two-Step Flow of Communications war geboren und legte einen der Grundsteine für das Konzept der Viralen Werbung:

Occasionally, the more articulate people even pass on an article or point out the importance of a radio speech. Repeatedly, changers referred to reading or listening done under some personal influence. (ebd. 151)

Neben der Reichweitenwirkung der persönlichen Kontakte führen die Autoren eine Reihe psychologischer Faktoren an, in denen persönliche Kommunikation den Massenmedien überlegen ist. Zum einen unterstellt man persönlichen Kontakten keinen unmittelbar persuasiven Zweck (vgl. ebd. 152). Wendet man sich einer Rede – oder auch Werbung – zu, so wird dieser Medieninhalt eben auch im Schema Werbung rezipiert, was nach Lazarsfeld et al. vor Einflussnahme schützt. Bei persönlichen Beziehungen fällt dieses Rezeptionsschema weg. Menschen lassen sich – salopp gesagt – nicht einfach wegzappen. Ein weiterer Vorteil der persönlichen Kommunikation ist deren Flexibilität beim Überwinden von Widerständen (vgl. ebd. 153). Merkt eine Person, dass das Gegenüber das Thema nicht interessiert, kann sie unmittelbar darauf reagieren. Darüber hinaus erhalten Menschen in interpersoneller Kommunikation eine Belohnung für Konformität (vgl. ebd. 154). So kann der Gesprächspartner emotionale Regungen zeigen, den Raum verlassen oder andere Sanktionen setzen. Als vierten wichtigen Vorteil führen die Autoren das Vertrauen der Menschen in persönliche Quellen an, das in die Medien ja nicht unbedingt gegeben sein muss (vgl. ebd. 155). Zu guter Letzt ist im persönlichen Kontakt die Überredung des Gegenübers ohne vorherige Überzeugung möglich. So haben in der Studie ganze 25% derjenigen, die einen persönlichen Kontakt als Grund für den Meinungswandel angegeben haben, gar keinen Grund dafür angeben können.

Die Studie blieb natürlich nicht von Kritik verschont. Zum einen konnte weiterführende Forschung zeigen, dass die Modellierung der Kommunikation in einem simplen zweistufigen Fluss zu einfach ist (vgl. Rogers 2003: 330ff und Bonfadelli 2004: 149ff). Aus dem Zwei-Stufen-Fluss wurde im Lauf der Zeit also das Modell eines interpersonellen Netzwerks (vgl. ebd.). Darüber hinaus kann an der Studie kritisiert werden, dass sie den Prozess der Diffusion der Information mit jenem der Persuasion vermischt (vgl. Bonfadelli 2004: 147). Während die Menschen heute von wichtigen Ereignissen hauptsächlich durch TV und Internet erfahren, spielen persönliche Kontakte allerdings für die Beeinflussung nach wie vor eine wichtige Rolle (vgl. ebd. 150ff).

Welche Schlussfolgerungen können nun für die Virale Werbung gezogen werden? Virale Werbung kann einerseits andere Menschen erreichen. Die Werbung hat es nicht (nur) mit isolierten Individuen zu tun, bei denen sie Werbewirkungen auslöst, sondern mit einem interpersonalen Kommunikationsnetzwerk, das in der Lage ist, die selektive Mediennutzung ihrer Mitglieder auszuschalten. Auch ohne die Existenz einer expliziten Meinungsführerschaft kann man vermuten, dass jene Studienteilnehmerin bei Ritson und Ellis, die zappend nach einem bestimmten TV-Spot gesucht hat, um mitreden zu können, diesen heute per Skype oder Facebook geschickt bekommen oder einfach auf youtube danach gesucht hätte.

Virale Werbung kann aber auch Menschen anders erreichen. Die psychologischen Vorteile der persönlichen Kommunikation lassen die Frage nach der Art und Weise der Rezeption der weitergeleiteten Werbespots aufkommen. Sorgt die Weiterleitung von Bekannten dafür, dass Werbung unter einem anderen Schema rezipiert wird? Zum Thema Flexibilität lässt sich fragen in welchen Kontext die Empfehlungen eingebettet sind und wie das Feedback dazu aussieht? Welche Rolle spielt das Gefühl der Belohnung und des Vertrauens bei der Weiterleitung von Werbespots? Gerade in Bezug auf Online-Kommunikation und –Plattformen, bei der durchaus nicht persönliche Vertrautheit gegeben sein muss, stellt sich die Frage nach diesen Web-Angeboten als aggregierten Meinungsführern?

Bei der Übertragung all jener Befunde auf die Werbung scheint allerdings die Bemerkung wichtig zu sein, dass die entsprechende Studien eben von wichtigen Ereignissen wie jenen am 11. September 2001 (77% medial, 23% personal) ausgehen (vgl. ebd.) und nicht von vermeintlich profanen Dingen wie alltäglichen Produkten und Werbung. Eine weitere Einschränkung ist, dass die Ergebnisse der Wahlstudie unter der „Kampagne“ die gesamte öffentliche Berichterstattung und Kommunikation über die Präsidentschaftswahl verstand. Es ging also nicht um spezifische Wirkungen einzelner Werbemittel im medialen Kontext, sondern um die Wirkung der gesamten medialen und interpersonalen Betrachtung der Wahlen. In gewissem Maße haben Lazarsfeld et al. also die gesamtgesellschaftliche Wirkung einer integrierten Kampagne inklusive Public Relations, Word-of-Mouth-Anstrengungen der Parteien und anderen Maßnahmen gemessen.

Darüber hinaus sollte noch einmal in Erinnerung gerufen werden, dass Gespräche über Werbung nicht Gespräche über Produkte und Marken sein müssen (vgl. Ritson/Elliot 1999: 274). Die Anstrengungen von Word-of-Mouth-Marketing, bei denen es um Konversationen über eine Marke geht, wie sie auch Lazarsfeld et al. bei der Wahlentscheidung beschreiben (vgl. ebd.: 158) ist etwas anderes als die Konversation über Werbungen in denen eine Marke verpackt wurde.

Bevor nun auf jene Kategorien eingegangen wird, die für die Kommunikationspraxis heute relevant sind, wird im nächsten Beitrag noch einmal auf die „Wichtigkeit“ von Themen in der Gesellschaft eingegangen.

Literatur:

  • Bonfadelli, Heinz (2004): Medienwirkungsforschung. 1. Grundlagen und theoretische Perspektiven. 3., überarb. Aufl. Konstanz: UVK-Verl.-Ges.
  • Lazarsfeld, Paul F./Berelson, Bernard/Gaudet, Hazel (1960): The people’s choice. How the voter makes up his mind in a presidential campaign, 2. ed., 5. print.New York, Columbia Univ. Pr.
  • O’Donohoe, Stephanie (1994): Advertising Uses and Gratifications. In: European Journal of Marketing, 28. Jg., Heft 8/1994, 52-75.
  • Ritson, Mark/Elliot, Richard (1999): The Social Uses Of Advertising: An Ethnographic Study Of Adolescent Advertising Audiences. In: Journal of Consumer Research, 26. Jg., Heft 3/1999, 260-277.
  • Rogers, Everett M. (2003): Diffusion of innovations. 5. ed. New York, NY [u.a]: Free Press.
  • Schweiger, Günter/Schrattenecker, Gertraud (2005): Werbung: eine Einführung. 6., neu bearbeitete Auflage. Stuttgart: Lucius & Lucius, 376 S.

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