Virale Werbung: Erwartungen aus Theorie und Praxis (Teil 18 der Serie zu viraler Werbung)

Anhand der ersten drei Forschungsfragen lassen sich nun die Erwartungen und Annahmen der Praxis mit jenen aus den herangezogenen kommunikationswissenschaftlichen Theorien vergleichen. Dabei ist wichtig anzuführen, dass andere theoretische Ansätze auch andere „Probleme“ zu Tage befördert hätten.

Was „ist“ Virale Werbung? Was sind die Gemeinsamkeiten und Unterschiede zu anderen Formen der werblichen Kommunikation?

Aus der Analyse der vorhandenen Literatur und den verschiedenen Verwendungsformen der Begriffe in der Praxis zeigte sich, dass das Konzept der viralen Werbung mit verschiedenen Kommunikationsmaßnahmen verwandt ist und aus diesen verschiedene Elemente übernimmt. So ist der Inhalt viraler Werbung zumeist unkonventionell, was für die Philosophie des Guerilla Marketings spricht. Darüber hinaus konnte gezeigt werden, dass es auch hinsichtlich der Unterhaltsamkeit des Inhaltes Überschneidungen mit Guerilla Marketing, Word-of-Mouth-Marketing, Viral Marketing und vor allem dem Branded Entertainment gibt. Die Funktionsweise der viralen Werbung lehnt sich an die bereits seit den 50er Jahren in der Marktkommunikation verbreitete Auffassung der hohen Bedeutung interpersoneller Kommunikation und der Möglichkeit der viralen Verbreitung von Informationen in Zeiten des Internets an.

Ein Blick in die Hintergründe und Gemeinsamkeiten der Ansätze zeigte, dass die sogenannte Krise der Werbung das wesentliche Argumentationsmaterial für die Verfechter der neuen Ansätze liefert. Dabei konnte gezeigt werden, dass die Krise der Werbung eine durch vom gesellschaftlichen Funktionssystem Werbung selbst ausgehenden Operationen verursacht und durch neue Variationen wieder gelöst wird: so verknappt Werbung Aufmerksamkeit durch den Versuch sie zu erreichen und so braucht die gute Werbung die schlechte um als gute ihre Wirkung erfüllen zu können. Darüber hinaus konnte gezeigt werden, dass das Konzept virale Werbung auf die zunehmende Verschmelzung der massenmedialen mit der interpersonellen Kommunikation aufbaut und dass die wachsenden Bedeutung des Webs jenen Konzepten zum Aufstieg verholfen hat, die im Vergleich zur klassischen Werbung nutzerzentrierte Ansätze verfolgen. Schließlich wurde angeführt, dass „viral“ eine Kategorie ist, die aus der Perspektive der RezipientInnen zu sehen ist. Ob ein Spot viral ist, lässt sich bei der Planung nicht sagen, womit man von viraler Werbung mit kleinem v schreiben sollte.

Auch die Ergebnisse der Experteninterviews zum „Wesen“ viraler Werbung beinhalten diese Konstrukte und Relationen – wenn auch weniger explizit. Sowohl die Ungewöhnlichkeit, die Unterhaltung, die Bedeutung der interpersonellen Kommunikation, die virale Ausbreitung als auch die Krise der Werbung finden sich in den Ausführungen in Bezug auf Virale Werbung wieder. Auch eine zunehmende Konvergenz von massenmedialer und individueller Kommunikation wird von den Agenturvertretern angenommen. Die historischen Kontinuitäten der Ansätze wie der Mundpropaganda oder der Krise der Werbung sind dagegen weniger präsent.

Welche Nutzungen und Wirkungen erwartet die Kommunikationspraxis von viraler Werbung?

Die wesentliche Handlung, die von RezipientInnen bei viraler Werbung erwartet wird, ist wenig überraschend das Weiterleiten der erhaltenen Botschaft. Die Kommunikationspraxis geht weiters davon aus, dass Virale Werbung eine Vielzahl an Nutzen für die RezipientInnen bieten kann – von der Unterhaltung bis zum Erlangen von Feedback im sozialen Umfeld. Allerdings wird diese Verhaltensweise nur bei viraler Werbung erwartet, nicht bei Werbung an sich. Das Bild der RezipientInnen in der Werbung ist in gewissem Maße ambivalent. Während die sie bei der Konzeption klassischer Werbung als die EmpfängerInnen einer Botschaft gesehen werden, wandelt sich das Bild bei viraler Werbung plötzlich zu kritischen, vernetzten, spielerischen, aktiven Menschen. Darüber hinaus wird der Werbung schon grundsätzlich die Aufgabe zugesprochen interessant und begeisternd zu sein, während genau diese Kriterien auch beim Wesen „viraler“ Werbung zur Sprache kommen; eben diese Überschneidung und Trennung macht die unterschiedlichen Bilder der RezipientInnen etwas unverständlich.

Die erwarteten Wirkungen von viraler Werbung sind im Wesentlichen Awareness und Image-Änderung, wobei der Image-Wirkung die höhere Bedeutung zugesprochen wird. Aufmerksamkeit (im Sinne von Awareness) für eine Marke sei zwar auch oft ein Ziel der Werbung, um etwas für die Markenwerte zu machen, müssten die Botschaften allerdings von der klassischen Werbung konstruiert werden. Es wird also von einer Image-Änderung durch die Rezeption von viraler, wie auch klassischer Werbung ausgegangen. Das reine Erreichen der Aufmerksamkeit ohne Image-Wirkung ist zwar möglich, aber nur selten gewünscht. Parallel dazu wird angenommen, dass die Rezeption viral verbreiteter Werbung eine stärkere Wirkung habe als im TV rezipierte Werbung. Dies wird durch die aktive Zuwendung im Gegensatz zur Rezeption von TV-Werbung und durch die Empfehlung und damit des persönlichen Einflusses eines Bekannten erklärt. Im Idealfall wird für Virale Werbung erwartet, dass sie zwar aktiv, aber nicht als Werbung rezipiert wird. Diese Erwartung stellt für eventuelle Untersuchung die Frage nach der Rezeptionsintensität als vermittelnde Variable der Werbewirkung.

Was die Reichweite viraler Werbung betrifft wird von ihr erwartet, dass über sie Menschen erreicht werden können, die ansonsten über die klassischen massenmedialen Kanäle nicht erreichbar wären. Während aber einer erfolgreichen viralen Kampagne sehr wohl massenmediale Effekte in den Zielgruppen zugetraut werden können, wird Virale Werbung nicht automatisch als dazu geeignet gesehen, eine breite Öffentlichkeit zu erreichen.

Welche Nutzungen und Wirkungen legen spezifische Ansätze der kommunikationswissenschaftlichen Theorie nahe?
Für die Nutzung der viralen Werbung durch die RezipientInnen wurde auf Erkenntnisse der Uses-and-Gratifications-Forschung zur klassischen Werbung zurückgegriffen. Dabei zeigte sich, dass für werbliche Medienangebote, wie auch für andere Medien, eine Vielzahl an unterschiedlichen Nutzen möglich ist. Zum einen zeigten die Forschungen, dass Werbung als Programm rezipiert wird und mit Programm gemessen wird. Darüber hinaus wurde gezeigt, dass Werbung neben der Verwendung zur Unterhaltung auch als „kulturelles Kapital“ zur Schaffung der Identität, zur kreativen Deutung der Welt und vor allem in sozialen Interaktionen Verwendung findet. In Bezug auf Virale Werbung im Kontext der starken interpersonellen Vernetzung über Webangebote wie YouTube, facebook und anderen sogenannten Web 2.0-Angeboten lässt sich anhand dieser Ergebnisse vermuten, dass eben diese Nutzen, vor allem in Bezug auf die soziale Interaktion und Unterhaltung auch im Fall Virale Werbung eine wesentliche Rolle spielen.

Dabei sollte allerdings berücksichtigt werden, dass Gespräche über Werbung keinesfalls mit Gesprächen über Marken oder Produkten verwechselt werden sollten. Dies wird vor allem relevant, wenn man sich die Ergebnisse von Lazarsfeld, Berelson und Gaudet vor Augen führt. Deren Ergebnisse legen nahe, dass interpersonelle Kommunikation andere Menschen erreicht als die massenmediale Kommunikation und dass diese persönliche Kommunikation eine stärkere persuasive Wirkung hat. Im Normalfall kann bei Werbung aber nicht davon ausgegangen werden, dass jemand von der Güte einer Werbung, sondern von bestimmten Eigenschaften und Werten einer Marke überzeug werden soll – weswegen diese grundsätzliche Unterscheidung von Bedeutung ist. Dennoch kann aus den Ergebnissen der Wahlstudie von 1940 relevantes für Virale Werbung erschlossen werden.

Wie auch von den Vertretern der Kommunikationspraxis angeführt, legen die Ergebnisse der Theorie nahe, dass Virale Werbung andere Menschen erreichen kann als massenmedial vermittelte Inhalte. Darüber hinaus, und auch das wird auf Agenturseite erwartet, kann Virale Werbung aber auch Menschen anders erreichen. Der persönliche Einfluss nach Lazarsfeld, Berelson und Gaudet zeichnet sich durch einige psychologische Vorteile aus, die ihn der massenmedialen Vermittlung überlegen machen. Zum einen haben persönliche Gespräche keine unmittelbar persuasive Absicht, wie sie von Werbung erwartet wird. Zum anderen besteht bei der persönlichen Interaktion eine höhere Flexibilität beim Überwinden von Widerständen, eine mögliche Belohnung für Konformität und ein höheres Vertrauen der Menschen in persönliche Quellen. Es stellt sich also die Frage danach, welche Auswirkung persönlicher Einfluss auf die Rezeption von Werbung hat.
Die Ergebnisse von Lazarsfeld et al sind unter dem Licht der Wichtigkeit und Präsenz eines amerikanischen Präsidentschaftswahlkampfes zu sehen, weshalb der Agenda-Setting-Ansatz herangezogen wurde, um Licht auf dieses Kategorie zu werfen. Der Agenda-Setting-Ansatz stellt die Frage nach den Wirkungen der Medienagenda und legt nahe, dass weniger persuasive als vielmehr kognitive Wirkungen im Sinne von Salienz bestimmter Themen zu erwarten sind. Für die Werbung bedeutet das – im Gegensatz zu den Erwartungen der Kommunikationspraxis –, dass weniger die Einstellungsänderung, als vielmehr die Erreichung von Salienz in den Köpfen der Menschen durch die Präsenz in den Medien erreichbar ist.

Für die Virale Werbung bedeutet der Agenda-Setting-Ansatz mehrerlei. Zum einen legt die Beurteilung der Realität durch die Medienagenda die Präsenz in den von Zielgruppen genützten Medien nahe. Virale Werbung mit ihrer Verbreitung in Blogs, Communities und in persönlichen Interaktionen lässt sich also als Mittel zum Zweck der Erreichung einer starken Präsenz sehen. Weiters kann man erwarten, dass über Marken, die bereits salient sind, mehr gesprochen wird als über Marken die in den Köpfen der Menschen weniger präsent sind. Betrachtet man dann die Weiterleitung einer Werbung auch nur als eine soziale Interaktion über Werbung, dann legt dies nahe, dass Werbungen bekannter Marken eher weitergeleitet werden, als jene weniger bekannter Marken. Auch dies widerspricht den Ansichten der Praxis in der vermehrt Wert auf den Inhalt und die Idee des Spots und weniger auf die Marke gelegt wurde. Führt man die Ergebnisse der Forschung zu persönlicher Kommunikation und der Agenda-Setting-Theorie zusammen, so würde dies nahe legen, dass es wichtiger ist mit der Marke an sich präsent zu sein, um dann die Persuasion der Kommunikation in den interpersonellen Netzwerken zu überlassen. Wie aber bereits angeführt, findet bei viraler Werbung die Kommunikation über Werbung relativ unabhängig vom Produktkonsum statt, was auch auf Seiten der Theorie die Frage nach der intervenierenden Funktion des Rezeptionsmodus viraler Werbung auf die Werbewirkung eröffnet.

Etwas das man lesen sollte …

Martin Oetting – früher selbst klassischer Werber – hat auf seinem Blog connectedmarketing.de einen wundervollen Artikel geschrieben, der Kreativen, Kundenberatern, Geschäftsführern und Kunden aller Länder auf das Hirn getuckert werden sollte. Unter dem Titel „Offener Brief an manche Werbekreativen in Deutschland“ geht er auf die Einstellung klassischer Werber Blogs und „Social Media“ gegenüber und die dahinterliegenden Denk- und Agenturstrukturen ein und gibt einige lesenswerte Denkanstöße.

Und ja – natürlich muss auch Herr Oetting von etwas leben, und nein – in Sachen Medien und Kommunikation gibt es keine absolut unzweifelhaften Wahrheiten. Auch ist Mundpropaganda nichts sooo Neues (man google unter Bernbach und Word of Mouth) und das Ende der klassischen Werbung wird auch nicht erst seit gestern an die Wand gemalt (Schilderpest, Reklameflut und ähnliches gab es schon im 19. Jahrhundert). Und auch die Medienlandschaft hat sich immer geändert und hat nie von heute auf morgen ein Medium abgeschafft. Werbung wird es vermutlich immer geben. Reichweite an sich ist auch nicht etwas das von heute auf morgen niemanden interessiert.

Aber es geht um etwas anderes. Die Veränderung der Medienlandschaft, die Akzeptanz des Kunden als Menschen und nicht als metaphorisch müllschluckender „Endverbraucher“ oder auch „Loser“, die tausenden Menschen die aus klassischer Offline-Mundpropaganda „word of mouth on steroids“ gemacht haben, sollten doch dazu führen, dass sich irgendetwas ändert. Nicht nur in Sachen Werbung sondern auch im grundsätzlichen Denken was Design, PR, CRM, … also das allgemeine „Erleben“, die „Experience“ einer Marke betrifft. Das heißt jetzt nicht, dass jede virale Kampagne Millionen mal angesehen werden muss (oder dass virale Kampagnen ach so sinnvoll wären), es heißt auch nicht, dass jede Marke auf Teufel komm raus eine eigene Facebook-Seite braucht (und man sich dann wundert, warum die niemanden interessiert). Und es heißt auch nicht, dass es heute einfach ist, so etwas wie Nike+ auf die Beine zu stellen. Es heißt aber, dass man sich in Sachen Marken- und Kommunikations-Strategie etwas einfallen lassen sollte, das über den klassischen 15- oder 30 Sekünder, Newsletter und Banner-Ads hinausgeht.

Klassischen Werbern denen diese Veränderung nicht gefällt (gut – mag sein), empfiehlt Oetting zur Demonstration ihres Standpunktes zwei einfache Aufgaben zu lösen:

1) Geschichten, Ideen, Konzepte erfinden, die die Massen oder auch die Nischen elektrisieren. Nicht, weil millionenschwere Etats Ihre Ideen in jedes Wohnzimmer tragen. Das kann doch jeder. Nein – so großartig denken, erfinden, entwickeln, dass die Loser kommen, dass ihnen der Mund offen steht und sie begeistert klicken, gucken, und wieder kommen und wieder klicken und wieder gucken, und alle ihre Freunde mitbringen. So dass nicht der Werbedruck die Millionen Zuschauer bringt, sondern allein die Idee. Und dass alle Loser mitmachen, sich einbringen, unterstützen, mithelfen wollen. Wer das wirklich leisten kann, der darf sich dann auch getrost für besser halten.

2) Bei all dem müssen sie jedoch sicherstellen, dass diejenigen, die begeistert sind, später auch kaufen. Denn wer für Passion und Begeisterung sorgt, aber keine Marktanteile bringt, der soll Künstler werden, nicht jedoch im Marketing arbeiten.

Volle Zustimmung von mir. Am Besten einfach lesen.