Nun gibt es ja wissenschaftlich gesehen so etwas wie einen „Information Overload“ bei Menschen nicht. Bewusst verarbeiten können wir nur einen Bruchteil dessen was rund um uns geschieht und der Rest überflutet unser „bewusstes Hirn“ nicht, sondern wird einfach nicht verarbeitet. Soweit so gut.
Trotzdem kommt es mir manchmal so vor, als würde mein Hirn seit ich Blogs lese noch mehr Zeit damit verbringen, die verschiedenen Einflüsse aus verschiedenen Richtungen zu verarbeiten und zu schematisieren. Dazu kommen die Einflüsse aus meinen zwei Studien, die den Theorien-Salat nur noch verschlimmern. Die Publizistik- und Kommunikationswissenschaft ist ja in sich ein chaotischer Haufen verschiedener Ansätze (Psychologie, Soziologie, Anthropologie, …) und die Betriebswirtschaftslehre mit ihren Modellen, Akronymen und sonstigen Prozessen liebt es ohnehin eine Perspektive lehrbuchgerecht zu verpacken und als einzige Wahrheit zu verkaufen. Darum auch Betriebswirtschaftslehre und nicht Betriebswirtschaftswissenschaft, aber das ist eine andere Geschichte.
Worauf will ich hinaus? Schon seit längerer Zeit sauge ich die Gedanken von Russell Davies, David Armano, Martin Oetting, Faris Yakob, Simon Law, dem Frogblog, dem Adaptive Path Blog, dem Digital Design Blog, Tim Keil, den Werbebloggern, Grant McCracken, dem Northern Planner und vielen mehr auf. Dazu kam im Studium dann Literatur á la Luhmann, Luckmann, Krugmann, Popper, Lazarsfeld, Holt, Blumler, Katz, Blumer, Schmidt und wie sie alle heißen. Und daneben klassische Lehrbuchgrundlagen aus internationalem Marketing und Marktforschung. Will heißen: Chaos.
Was also tun? Glücklicherweise hatte ich in der Publizistik- und Kommunikationswissenschaft die Gelegenheit durch das Schreiben zweier Bakkalaureatsarbeiten das Chaos ein wenig zu ordnen. Die erste – im Nachhinein völlig oberflächliche Arbeit – behandelte die „Online-Kommunikation bei der Markteinführung von High-Involvement Produkten“. Wie man schon am Titel erahnen kann habe ich darin so ziemlich alles zusammengewürfelt was mich zu diesem Zeitpunkt beschäftigte: Online-Kommunikation, Markteinführungen, Involvement-Forschung. Auf 40 Seiten ist das Thema natürlich unmöglich erschöpfend darzulegen. Aber: Ich konnte zumindest meine Gedanken ordnen, mir eine Theorie zurechtlegen.
Ein Jahr später hieß es dann „Virale Werbung„. Inspiriert von Martin Oettings kritischen Betrachtungen „viraler Werbefilmchen“ einerseits und „Cadbury’s Gorilla“ andererseits wollte ich mich mit viraler Werbung beschäftigen. Dabei ging es mir weniger um „Virale Werbung“ als Neuheit, sondern eher eher um „virale Werbung“, im Sinne von „viral genützter Werbung“ (Faris Yakob schreibt das viel schöner als ich). Mir ging es darum zu verstehen, welche Schemata eigentlich in der Kommunikationspraxis verbreitet sind und was man aus meinem geliebten Studium eigentlich an Theorien dafür verwenden kann, um das Phänomen zu verstehen. Wieder war die Arbeit eigentlich zu breit angelegt: die Betrachtung von Rezeption, Nutzung und Wirkung verlangt mindestens nach einer Diplomarbeit. Aber, einmal mehr konnte ich meine Gedanken ordnen, Literatur bewusster durcharbeiten, versuchen mir meine eigene Theorie zu schaffen.
Darüber wie ich über Kommunikation und Medien denke hat sich so im Laufe der Zeit ein relativ explizites Schema herausgebildet. Mit vielen Fragezeichen natürlich – vor allem was den kulturellen und inhaltlichen Teil betrifft, aber immerhin. Was Marken betrifft ist das Nachdenken darüber immer nebenbei mitgelaufen und nie explizit in meine Arbeiten eingeflossen. Man liest halt Dinge zu Sozialkonstruktivismus, Cultural Studies oder Neoropsychologie und legt es dann selbst irgendwie auf das Thema um. Mit weiteren Fragezeichen.
Wie sieht es also aus, mein Schema? Vereinfacht und unter der Berücksichtigung, dass die Phänomene natürlich miteinander verknüpft sind, in etwa so:
Mikro-Phänomene
In den meisten klassischen Marketing- und Werbelehrbüchern findet man immer noch fast ausschließlich das Gerede von der Veränderung von Dingen in mehr oder weniger unschuldigen Gehirnen:
Mitteilung raus, Mitteilung rein, Verarbeitung und Wirkung.
Watzlawick und andere Vertreter des Konstruktivismus lehren uns allerdings, dass das so einfach nicht ist, weil wir „die Welt“ erst in uns erschaffen, den Dingen also Bedeutung zuweisen. McCracken zeigt zum Beispiel wunderbar, dass Werbung auf Bedeutungen und keine reinen Informationen sind. Watzlawick zeigt in seiner Arbeit, dass Kommunikation viel mehr ist als die übermittelte Information. Es kommt also auch und oft viel darauf an wie man etwas sagt als was man sagt.
Und zum Thema Verarbeitung und Wirkung schreibt Herbert E. Krugman schon 1965, dass die Stärke der TV-Werbung genau darin liegt, dass sie eben nicht angemessen verarbeitet wird.
Robert Heath and Paul Feldwick verarbeiten den gesamten Komplex wunderbar in ihrem Artikel über „50 Years using the wrong model of TV advertising“.
Betrifft:
- Die gesamte Marktforschung (Brand Recognition, Brand Recall, Brand Image)
- Produktentwicklung und -design
- Marken als Erlebnis/Erfahrung
- „Tone of Voice“
Literatur:
- Konstruktivismus (Paul Watzlawick, Siegfried J. Schmidt)
- Herber E. Krugman: The Impact of Television Advertising: Learning Without Involvement.
- Robert Heath and Paul Feldwick: 50 Years using the wrong model of TV advertising.
- Grant McCracken: Advertising: Meaning or Information?
- Neuropsychologie
- Semiotik
Soziale Phänomene
Meinungsführer und persönliche Beeinflussung sind nicht erst seit gestern, sondern seit etwa 50 Jahren in Mode – und damit so ziemlich das einzige Modell, das es neben der „Kommunikation als Transport“-Metapher in Marketing-Bücher schafft.
Heute wird das Phänomen techologisch upgedated und breiter unter dem Thema „Social Media“ abgehandelt, das Ende der Werbung – wieder einmal – prophezeiht. Die Menschen, die bisher militärisch als Zielgruppen und Verbraucher bezeichnet wurden, werden zum Partner, zum Co-Creator und allerhand mehr. Für die ganz Überzeugten heißt es Connected Marketing und bedeutet die Implementierung der interpersonellen Kommunikation in die Unternehmensstrategie, für die Werber heißt es „viral“ oder „contagoius“.
Jedenfalls beschäftigt sich das Marketing plötzlich intensiver mit sozialen Phänomenen.
Heraus aus dem Hirn der Menschen und hinein in ihre Facebook-Accounts.
Egal ob man nun zu den Anhängern der reinen Lehre zählt oder nicht: Marken sind soziale Konstruktionen, wie alles andere auch. Und damit trifft auf sie alles zu, was man so über soziale Kommunikation herausgefunden hat: über sozialen Druck, über öffentliche Agenda, über das Framing von Themen und über die Diffusion von Ideen.
Betrifft:
- die gesamte Markenführung
- die gesellschaftliche Akzeptanz und Autorität einer Marke
- Mediaplanung
- Segmentierung
Literatur:
- Meinungsführer-Forschung (Lazarsfeld, Katz, Blumler)
- Agenda-Setting Forschung (McCombs, Shaw)
- Sozialer Interaktionismus (Mead, Blumer)
- Soziale Konstruktion der Wirklichkeit (Berger, Luckmann)
- Guido Zurstiege: Werbeforschung.
- Guido Zurstiege: Zwischen Kritik und Faszination. Was wir beobachten wie wir die Werbung beobachten, wie sie die Gesellschaft beobachtet.
Kulturelle Phänomene
Nike und Apple sind Ikonen unserer Kultur. Cadbury versucht gar nicht erst Werbung zu machen, die irgendwie mit Schokolade zu tun hat. Burger King dreht Dokumentationen. Jägermeister bewirbt KeinJägermeister.
Wirklich große Marken sind Teil der Kultur. Globale Marken sind Teil einer globalen Kultur. Jetzt sind natürlich auch Waschmittelmarken und ihre Werbung Kultur, so wie überhaupt alles Kultur ist.
Nike und Apple aber folgen nicht dem Zeitgeist, sondern erschaffen ihn (mit).
Große Marken bauen langfristig auf Narrationen die größer sind als sie selbst, die ihre Herkunft oft in der Geschichte der Kultur haben oder über Archetypen mit ihnen verknüpft sind. Und sie planen ein, dass Menschen nicht blöd sind, sondern die Geschichte selbst weiterspinnen und mitdenken.
Literatur:
- Douglas B. Holt: Jack Daniel’s America.
- Grant McCracken
- Naomi Klein: No Logo.
- Gunther Kress
- Theo Van Leeuwen
Deinen Text durchzieht die Idee, dass Marken und die Kommunikation, die sie umgibt, soziale Konstrukte sind – und immer waren!, die wir alle gemeinsam erzeugen. Ich stimme komplett zu. Das Problem besteht aber darin, dass die meisten Marketingabteilungen das noch nicht verstanden haben. Sie denken komplett nach SOR-Schema (ohne es zu wissen), optimieren Banner auf Clickraten und ignorieren den sozialen Aspekt. Wenn man dann einen Vortrag hält und anhand des Opel Manta erklärt, dass das nicht allein seit dem „Web 2.0“ so ist, sondern schon viel früher so war, erntet man viel Staunen.
Das, was sich nun ändert, ist, dass die Marketingleute diese soziale Realität wahrnehmen müssen. Sie können nicht einfach weiter die Augen davor verschließen und weiter so tun, als sei es möglich, mittels strategischer Planung und Werbekreation in der Welt zu bestimmen, was ihre Marke zu bedeuten hat. Denn eine einzige Suche bei Google oder Technorati zeigt ja das Gegenteil.
hi martin!
danke für den kommentar.
das problem mit dem SOR schema ist, dass die meisten marketingmenschen auch heute noch so ausgebildet werden. in jedem marketing- und werbefachbuch das man hier an der WU wien in die hände bekommt, wird kommunikation ausschließlich im S-O-R modell dargestellt. darüber haben wir auch auf der remix09 diskutiert und ich hoffe darüber bald einen blog-artikel fertig zu haben.
in deinem letzten satz würde ich, bei aller zustimmung, dennoch ein „ausschließlich“ vor „mittels strategischer planung und werbekreation“ setzen. das einfach aus dem grund, dass es mit werbung – so wie mit anderen medienangeboten auch, sofern sie rezipiert werden – nach wie vor möglich ist, wissenseffekte, emotionale effekte oder agenda effekte zu erzielen (das widerspricht sich mEn nicht mit einer ablehnung des SOR modells). darüber hinaus kann werbung – jetzt mal ganz allgemein als medianangebot gedacht – durchaus einen sozialen oder kulturellen nutzen haben, wenn sie im richtigen kontext rezipiert wird. wie oft das allerdings passiert, so dass es auch für die marke etwas bringt und sich in harte € ummünzen lässt (stichwort virale werbefilmchen) ist natürlich die frage.